Viktimologie – die Lehre vom Opfer

Fachbegriff und Definition

Vor allem in der Kriminologie wird der Fachbegriff Viktimisierung, abgeleitet vom lateinischen victima (Opfer), verwendet. Viktimologie beschäftigt sich, vereinfacht gesagt, auf wissenschaftlicher Ebene damit, wie Menschen zum Opfer werden. Zu einer Straftat, einem Verbrechen, gehören mindestens zwei. Täter und Opfer. Viktimologie ist als Wissenschaft der Kriminologie die Lehre vom Opfer. Wissenschaften beschäftigen sich mit Ursachen, Prozessen und Lösungen. In der Viktimologie ist das nicht anders – hier werden hauptsächlich folgende Aspekte betrachtet und analysiert:

  • den Prozess des Opferwerdens
  • das Verhältnis zwischen Täter und Opfer
  • ein späteres Anzeigenerhalten
  • die Stellung des Opfers im angestrebten Strafverfahren

Dafür muss zunächst definiert werden, wer ein Opfer ist. Als Opfer werden eine Person, eine Gruppe oder eine Organisation angesehen, die im Rahmen von Straftaten geschädigt wurden und einen wahrnehmbaren Schaden erlitten. Dabei wird (zunächst) nicht unterschieden, ob es sich um einen finanziellen oder physischen Schaden handelt. Ein psychischer Schaden ist vom Betroffenen und Außenstehenden weder wahrnehmbar, noch in den seltensten Fällen sofort erkennbar.

Was bedeutet primäre, sekundäre und tertiäre Viktimisierung?

Schwerpunktmäßig wird in der Viktimologie die Täter-Opfer-Beziehung betrachtet. Auf Basis des Ergebnisses dieser Betrachtung wird die primäre, sekundäre und tertiäre Werdung zum Opfer beschrieben und analysiert. Geklärt werden sollen in der Viktimologie auch prophylaktische Maßnahmen zur Verhinderung einer Opferwerdung und Möglichkeiten der Berücksichtigung von Opferinteressen bei der Wiedergutmachung und Entschädigung. Hier ist noch viel zu tun. Viktimologie beschäftigt sich mit verschiedenen Untersuchungsgegenständen:

  • dem Vorfeld, also die Beziehung zwischen Täter und Opfer vor der Tat im Hinblick auf personen- und verhaltensgebundene Faktoren
  • der Phase des Opfer-Werdens, also das Verhalten des Opfers während der Tatbegehung, beachtet werden hierbei auch Rechtfertigungs- und Neutralisierungstechniken
  • den Reaktionen auf die Viktimisierung, das bereits erwähnte Anzeigenverhalten und die Unterscheidung nach Primär- oder Sekundärviktimisierung.

Wissenschaftler behaupten, jede Straftat lässt sich im Hinblick auf die Folgen für das Opfer in verschiedenen Viktimisierungarten ausdrücken. Diese seien vor allem Primär- und Sekundärviktimisierungen.

Primäre Viktimisierung

Unter primärer Viktimisierung versteht man die unmittelbare physische (körperliche) und psychische (seelische) Beeinflussung der Straftat an sich auf das Opfer, also den unmittelbaren Zusammenhang der Opferwerdung mit der Tat.

Dauer und Häufigkeit der Tat, sowie die Täter-Opfer-Beziehung sind hier relevante Betrachtungsebenen.

Als klassischer Fall einer Primärviktimisierung wird die Angst des Vergewaltigungsopfers nach der Tat allein durch die Dunkelheit zu gehen angesehen. Direkte Verletzungen durch eine Tat fallen unter den Begriff der Primärviktimisierung.



Sekundäre Viktimisierung

Die Reaktion Dritter auf eine bestimmte Straftat beschreibt die Sekundärviktimisierung.

Die Kriminologen interessieren sich hierbei besonders die Reaktion des sozialen Umfelds des Opfers.

Betrachtet wird außerdem die Reaktion der Strafverfolgungsbehörden oder bei „medienwirksamen Taten“ die Reaktion der Öffentlichkeit. Wichtig: Negative Reaktionen, egal von welchen Dritten sie ausgehen, können dabei die unmittelbaren oder Spätfolgen der Tat für das jeweilige Opfer noch verschlimmern.

Besonders extrem fallen diese Folgen aus, wenn die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage gestellt wird. Die Wirkung auf das Opfer verschärft sich umso mehr, desto näher die zweifelnde Person oder Instanz dem Opfer steht.

Tertiäre Viktimisierung

Tertiärviktimisierungen sind die Folgen der Primär- und Sekundärviktimisierungen. Diese Folgen können von Gedächtnisstörungen bis hin zum Erlöschen jeglicher Lebensfreude reichen.

Tertiäre Viktimisierung bedeutet eine anhaltende und somit dauerhafte Annahme Opferrolle durch die Persönlichkeit des Opfers. Kriminologisch als sehr interessant und in der Realität als sehr gefährlich geltend, können einige Reaktionen der Opfer sein, die als Folge der Tertiärviktimisierungen auftreten.

Zum einen in Form von Gedanken an Suizid, also die Gefahr für das Opfer selbst. Zum anderen aber auch Rachegelüste oder so genannte Übersprungshandlungen, die zu sehr drastischen und folgenreichen Gewaltverbrechen durch die vormaligen Opfer führen.

Viktimologie: Sinnvolle Erkenntnisse oder statistisch fundierte Theorie?

Die Opfer werden in so genannten Opfertypen (Opfertypologie) eingeteilt. Nach welchen Kategorien die Opfer eingeteilt werden, erscheint absurd. Ist Leid kategorisierbar? Opfertypologien sind aus unserer Sicht nicht mehr als der Versuch einer Strukturierung und Systematisierung der Fülle des empirischen Materials. Dabei liefern sie keine Erklärung. Die Opfer werden in verschiedene Grade eingeteilt bei denen unterschieden wird zwischen:

  • „vollständig unschuldiges Opfer“
  • „Opfer so schuldig wie Täter“
  • „Opfer ist schuldiger als Täter“

Gute und weniger sinnvolle Ansätze, aber effektive Lösungswege konnten wir bisher in den Ausführungen der Viktimisierungs-Experten nicht finden. Gerade bei psychischer Gewalt haben Opfer den Eindruck, dass sie nicht ernst genommen werden, ihre massiven Schäden nicht nachweisen können und der Täter schneller therapiert, als dem Opfer überhaupt die Möglichkeit gegeben wird. Besonders schwierig ist der Aspekt, dass in der Öffentlichkeit oftmals nur vom Täter gesprochen wird. Diese – wie auch immer gemeinte und geartete – Aufmerksamkeit stilisiert Täter mitunter zu Helden.

Das erniedrigte Opfer wird hingegen als Verlierer betrachtet und empfindet sich selbst als als Versager im Kampf gegen den vermeintlich stärkeren Täter. Dabei sind Opfer keine Verlierer. Im Gegenteil: Die Menschenwürde hat der Täter geschändet, nicht das Opfer.